Das Landgericht Bremen hat im Berufungsverfahren wegen Volksverhetzung gegen den evangelikalen Pastor Olaf Latzel ein Gutachten in Auftrag gegeben, das feststellen soll, inwieweit die Bibel die Ausfälle von Latzel gegen Homosexuelle rechtfertigt. Damit kann eventuell eine Strafmilderung ermöglicht werden, da Latzels Äußerungen im Falle einer Deckung mit der Bibel unter die „Religionsfreiheit“ fallen könnten. So argumentierte Latzel und sein Rechtsanwalt. Mit dem Gutachten wurde ein evangelikaler Hochschullehrer von der zum Verbund der Evangelischen Allianz gehörenden Freien Theologischen Hochschule Gießen beauftragt.
Die Einholung eines theologischen Gutachtens, – was sagt uns die 1600 Jahre alte Bibel für heute -, hat schon erhebliche Verwirrung bei Staatsrechtlern hervorgerufen. Damit wird faktisch die Bibel über die weltliche Gesetzgebung erhoben, mindestens mit ihr gleich gesetzt. In einem säkularen Staat ein unmöglicher Vorgang.
Ein Blick in die Verflechtungen zwischen der Kirche in Bremen und dem Landgericht bzw. Oberlandesgericht Bremen werfen neue Fragen auf.
Die Bremische Evangelische Kirche (BEK) verfügt gemäß ihrer „Kirchenverfassung“ über zwei Rechtsinstanzen. Zum einen das Kirchengericht der BEK für allgemeine Kirchenangelegenheiten und zum anderen über die Disziplinarkammer der BEK für Streitfälle mit den „Kirchenbeamten“, also im wesentlichen Pastor*innen, Diakon*innen und anderem leitenden Personal. Die Disziplinarkammer hat im Frühjahr 2021 mit ihrer juristischen Expertise dafür gesorgt, dass Olaf Latzel nach seiner Suspendierung durch die Kirchenleitung, wieder auf die Kanzel durfte. Dies berichteten idea und der Weser Kurier.
Die beiden Gerichtsinstanzen wurden vom Kirchentag der BEK gewählt, zuletzt das Kirchengericht 2019 und die Disziplinarkammer im Jahre 2016.
Für beide Gerichte schreibt die Verfassung der BEK eine Mehrheit von Personen vor, die über das 2. Juristische Staatsexamen verfügen, also Rechtsanwält*innen oder Richter*innen. Das Gericht der BEK umfasst einschließlich der Vertretungen insgesamt 9 Personen, davon 6 Jurist*innen und 3 „ordinierte“ Mitglieder (Pastoren). Unter den Juristen befindet sich ein Rechtsanwalt, die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Bremen, ein Richter des Landgerichts Bremen und 3 weitere Richter des Oberlandesgerichts, (einer ist zwischenzeitlich beim OLG ausgeschieden).
Bei der Disziplinarkammer handelt es sich ebenfalls um sechs Jurist*innen und drei Pastor*innen. Vorsitzender der Disziplinarkammer ist ein Richter vom Landgericht Bremen sowie vier weitere Mitglieder des Oberlandesgerichts Bremen.
Zwei Personen gehören beiden „Gerichten“ an.
Natürlich dürfen Richter*innen in ihrer Freizeit machen was sie wollen, Golf spielen oder die Kirche besuchen. Ihre Tätigkeit in Kirchengremien und der hohe Anteil von ehrenamtlichen kirchlichen Richtern des OLG und Landgericht wirft jedoch Fragen auf.
Den Kirchen wird nicht erst seit den Missbrauchsfällen in beiden Kirchen der Vorwurf gemacht, über eine Paralleljustiz zu verfügen, die nicht öffentlich tagt. Damit wurden in der Vergangenheit etliche nach geltendem bürgerlichen Recht als strafbar zu bewertende Handlungen unter den Teppich gekehrt. Zudem ist es extrem fragwürdig, wenn Personen, die im Beruf darauf verpflichtet sind, Straftaten nach geltenden staatlichen Gesetzen zu beurteilen, nebenberuflich strafbewährte Sachverhalte bearbeiten und damit Gefahr laufen, in einen Interessenskonflikt zu geraten. Bundesweit ist es bei der evangelischen Kirche üblich, Richter*innen staatlicher Gerichte auch in die parallele kirchliche Gerichtsbarkeit zu wählen oder zu berufen.
Die enorme Ballung von Richter*innen in Kirchengerichten der BEK wirft zudem die Frage auf, ob das Landgericht oder das Oberlandesgericht bei Streitigkeiten von Menschen aus dem Lande Bremen mit der Kirche vor unbefangenen Richter*innen sitzen, die nicht gleichzeitig ein Kirchenamt inne haben. Das Landgericht und das OLG sind schließlich die höchste gerichtliche Instanz in Bremen. Eine kirchenfreundliche Rechtsprechung kann auch dadurch entstehen, wenn ein sehr großer Teil der Richter*innen eines Gerichts mit der Kirche über ehrenamtliche Tätigkeiten verbunden ist. Ein Generalverdacht gegen alle Richter*innen soll hiermit es selbstverständlich nicht erhoben werden..
Der Geschäftsverteilungsplan des Oberlandesgerichts Bremen für das Jahr 2021 weist 15 aktive Richter*innen auf. Allein fünf, ein Drittel also, von ihnen üben eine ehrenamtliche Tätigkeit in den Bremer Kirchengerichten aus. Eine davon ist die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht.
Die mit Richter*innen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts Bremen besetzte Disziplinarkammer der BEK wurde von Olaf Latzel nach seiner Dienstenthebung durch die Bremer Kirchenleitung angerufen. Das Disziplinargericht trug offensichtlich rechtliche Bedenken gegen die Amtsenthebung vor und regte einen Vergleich an, der der das vom Kirchenausschuss verhängte Predigtverbot für Latzel zu Fall brachte. Latzel durfte wieder auf die Kanzel. Jetzt ist die Berufungskammer beim Landgericht der Argumentationslinie der Verteidigung von Latzel gefolgt und hat ein Bibelgutachten in Auftrag gegeben.. Schon im ersten Verfahren gegen Latzel, das mit einer Verurteilung wegen Volksverhetzung zu einer Geldstrafe von 8100 Euro vor dem Amtsgericht endete, hatte Latzels Verteidigung vorgetragen, die von Latzel gemachten Äußerungen gegen Homosexuelle seien durch die Religionsfreiheit gedeckt, da er sich auf die Bibel berufen könne. Latzel war im Gerichtssaal demonstrativ mit der Bibel in der Hand erschienen.
Wirkt sich der hohe Anteil von Richter*innen mit kirchlichen Ehrenämtern bei den Entscheidungen der höchsten Rechtskammern in Bremen aus ?
Die in Bremen praktizierte Überschneidung von Personen in Spitzengremien des Staates und in Ämtern der Kirche macht einmal mehr deutlich, dass eine strikte Trennung von Kirche und Staat nicht vorhanden ist.